Verbier Festival 2018 III: Ein georgischer Ableger plus ein formidables Anti-Aging-Programm

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Es kann nur ein Verbier Festival geben. Im Prinzip richtig, vor allem, wenn man überblickt, was Martin Engstöm hier in 25 Jahren aus der Schnapsidee eines Skiaufenthaltes mit einer schon lange gärenden Vision eines Sommerfestival geboren hat. Er hat allerdings zudem  gleich und nachhaltig die Künstler überzeugt, die meisten sind längst Wiederholungstäter:  Mischa Maisky, der dieses Jahr 70 geworden ist, kam 24 Mal mit der ganzen Familie, inzwischen auch mit Enkel; Evgeny Kissin war 22 Mal da. Was folgte, war der Schneeballeffekt im Juli und August, Konzerte den ganzen Tag, vier offizielle, jede Menge umsonst und auf jedem Niveau. Die Akademietüren stehen überall offen, viele Gäste machen inzwischen allein deswegen hier Ferien. Es gilt, das Festival Orchester, das Kammer- und das Jugendorchester zu verfolgen, zudem locken die diversen Meisterklassen. Die einen Künstler suchen hier Privatheit, man sieht sie nur bei den eigenen Konzerten, wie dieses Jahr Daniil Trifonov. Die anderen sitzen auch in den Proben der Kollegen, feiern lauter schöne Sommerpartys. Und keiner braucht, außer es muss morgens ans Pult oder aufs Podium, an die Promille denken. Hier ist fast alles fußläufig. Und den Berg runter kommt man immer. Selbst die lange Leier der diesjährigen Absagen – Martha Argerich, Gautier Capuçon, Radu Lupu, Martin Fröst, Ivan Fischer, Denis Matsuev, Pamela Franck, Amanda Forsyth, Marcelo Puente, Janine Jansen – sie würde manchem anderen Festival als Künstlerliste zur Ehre gereichen. Hier wurden sie nicht selten spektakulär ersetzt.

Und doch gebiert das Verbier Festival jetzt ein Baby als Ableger in Georgien. Auf einer etwas überinszenierten Pressekonferenz (die aber zeigte, wieviel Geld und Ambition da im Spiel ist) wurde es verkündet: Vom 8. bis 22. September 2019 sollen auf dem proper sanierten Adelssitz Tsinandali, dessen Schlossmuseum bereits 120.000 Besucher im Jahr anzieht,  40 Konzerte stattfinden plus Akademie mit 60-Musiker-Pan-Caucasus-Orchester, um „Frieden und Musik“ in die Region zu bringen, wie es vollmundig heißt. Der Oligarch George Ramishvili mit seiner Investorenfirma Silk Road Group steht dahinter, sie haben bereits seit 2007 das marode, zweieinhalb Fahrstunden von Tblisi entfernten Gemäuer samt Garten behübscht, eine Weinkellerei gebaut und stellen im Herbst ein 144-Zimmer-Luxushotel fertig. Ein 900-Plätze-Konzertsaal und ein von Starlichtdesigner Ingo Maurer beleuchtetes Outdoor-Amphitheater sollen die zahlungskräftigen Gäste anziehen. Die gibt es wohl besonders auch im Libanon und in Israel, von da ist es nicht weit, wie Avi Shoshani versichert, der gewiefte Langzeit- und Immer-noch-Intendant des Israel Philharmonic Orchestra, der auch in Verbier von Anfang an dabei war und jetzt mit Martin Engstöm dieses Festival aufbaut.

Sichere Quellen schwärmen, wie schön es da sei und dass auch schon mit ersten Lehreinheiten und pädagogischem Networking begonnen worden ist. Am Atelier- und Probenhaus werde gebaut. 2017 gab es schon mal ein Teaser-Konzert zur Amphitheater-Eröffnung mit Zubin Mehta, Khatia Buniathisvili und dem Israel Philharmonic. Für die ordentliche Auftakt-Ausgabe des Tsinandali Festivals, das von Ramishvili wie dem georgischen Staat (mit natürlich massiv touristischer Absicht) mit insgesamt drei Millionen Euro unterstützt wird, haben sich Lisa Bathiashvili, die Capuçon-Brüder, Thomas Hampson, Mischa Maisky, die eigentlich längst podiumabstinente Maria Joao Pires, Fazil Say, Jukka-Pekka Saraste, András Schiff, Yuja Wang sowie Omer Meier Wellber angesagt and many others…Der frisch ernannte Musikdirektor Gianandrea Noseda musste freilich zugeben, dass er noch gar nicht da war.

Konkreter waren und sind da hingegen die Konzerte im wieder im schönsten Alpensonnenschein erstrahlenden Verbier. Zunächst schaue ich 90 Minuten in der Turnhalle vorbei, in der der erstmals hier auftretende Pablo Heras-Casado mit dem Kammerorchester Schumanns 2. Sinfonie probt. Er ist voll des Lobes über dessen Qualität, flott und effizient wird an ein paar heiklen Stellen gearbeitet. Ihn freut es fast, dass statt Martin Fröst jetzt Jan Lisiecki das Schumann-Klavierkonzert spielen wird.

Hochspannung dann beim 19-Uhr-Combins-Konzert, angenehm gedimmt durch ein Glas Champagner vorab. Der scheint hier – trotz 20 Fränkli für die Rosé-Variante – die am meisten konsumierte Flüssigkeitsvariante zu sein. Statt Ivan Fischer dirigiert heute eine spektakuläre Trias. Erst der schneidige Assistent François López-Ferrer, der Bernsteins „Candide“-Ouvertüre frech-elegant durchpeitscht. Die jungen Musiker sind auf Betriebstemperatur, genau richtig für eine romantisch-schöne, angemessen vibratoverliebte Interpretation des hier erst zum zweiten Mal gespielten Dvorak-Cellokonzerts mit Mischa Maisky als souveränem Solisten. Der gibt sich heute fast tarnfarbig monochrom – mit einer blauseidenen, nach ehemaligem Kissenbezug aussehenden Bluse in Verbier-Corporate-Identity-Farbe. Und wird sicher assistiert von Gabor Takáscs-Nagy, dem Chef des Kammerorchesters, der erstmals das große Verbier Orchester dirigiert.

Und danach kommt ER, in geliehener schwarzen, schnell schweißglänzenden Bluse. Simon Rattle, der generös, sogar mit einer Probe extra, die Fünfte Beethoven übernommen hat,  eigentlich ist er nur im Urlaub mit seiner hier auftretenden Frau Magdalena Kozena. Die, ein Sohn und noch weitere Familienangehörige sitzen wippend neben mir, als auf der Bühne die Beethoven-Post abgeht. Als Fest des Rhythmus und der Farben, energetisch und gewitzt, nichts von mancher Verkrampftheit mit den Berliner Philharmonikern. Frank, frei und vergnügt tönt das. Die Kids sind begeistert, der Saal tobt und selbst die anwesenden Kollegen Heras-Casado und Noseda zollen Respekt.

Mein Verbier-Aufenthalt klingt geruhsam feinsinnig aus, ohne zum Beispiel etwas vom der weitverzweigten Unlimited-Reihe der Akademistenauftritte mitbekommen zu haben, mit einem konzentrierten Rezital von Jan Lisiecki in der Kirche: Schumann, Ravel, Rachmaninow Chopin, ausgeglichen, balanciert, schön, feinsinnig. Und genügen dZeit, dann doch darüber nachzudenken, was sich hier in all den Jahren verändert hat. Die Festival-Dekoration in den örtlichen Ladenschaufenstern ist witziger geworden.  Und eines ganz bestimmt: Früher gab es zur Begrüßung DIN-A2-große Schweizer Praliné-Schachteln auf dem Hotelzimmer. Und heute? Rotwein, Birnenschnaps und Anti-Wrinkle-Augenserum. Wir sind eben alle inzwischen 25 Jahre alt…